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Der Lohn, wenn du deine Angst besiegst

Die Alpe Pietrarossa ist einer meiner Lieblingsorte im Val Colla. Schon im Mai 2016 (siehe hier) war ich auf der Alpe Pietrarossa, ganz allein. Damals habe ich beschlossen, die gleiche Tour im Winter zu wiederholen – auch wenn Schnee liegt.

Im Januar 2017 ist es endlich so weit. Schnee hat es im Südtessin fast keinen, die Temperaturen sind tagsüber recht milde um die -1 °C; nachts aber rechne ich mit ungefähr -15 °C.

Alles liegt bereit, auch Zeit ist vorhanden, also los. … Aber.

Aber.

Angst kriecht in mir hoch. Am Vorabend vor dem Aufstieg zur Alpe Pietrarossa. Absolut ungewöhnlich. Warum denn plötzlich diese Angst?

Angeregt durch einen Beitrag in den Social Media über das Calanda-Wolfsrudel habe ich ein paar Tage vor meiner Tour auf die Alpe Pietrarossa recherchiert, ob es Wölfe im Val Colla gibt. Nicht direkt im Val Colla. Aber ein Fall aus 2015 ist bekannt, bei dem ein Wolf am Monte Bar einige Ziegen gerissen hat, ungefähr 2 km von der Alpe Pietrarossa entfernt.

Bislang habe ich mich nicht vor dem Wolf gefürchtet, aber je länger ich recherchiere, desto unsicherer werde ich.

  • Wenn es nun Wölfe im Val Colla gibt? Werden sie dem Menschen gefährlich?
  • Und wenn sie im Rudel jagen? Im Winter, wenn sie hungrig sind? Meine Recherchen ergeben widersprüchliche Resultate: Der Wolf sei vor allem hungrig im Sommer, wenn er seine Jungen füttern müsse. Andere Studien sagen aus, dass er vor allem im Winter hungrig sei, wenn seine Beutetiere (Schafe, Ziegen etc.) nicht in seinem Revier sind.
  • Einige Studien beruhigen: Wölfe greifen unter normalen Umständen Menschen nicht an. Der Wolf sei ein ‘Non-Starter’ und ergreife normalerweise die Flucht, seine Angst vor dem Menschen sei angeboren.

Ich versuche, rational zu denken. Der Mensch ist kein Beutetier für den Wolf. Der Wolf greift den Menschen normalerweise nicht an. Normalerweise.

Wie war es denn beim letzten Mal auf der Alpe Pietrarossa, im Mai 2016? Das war nur wenige Monate nach dem oben genannten Fall am Monte Bar. Habe ich da Wölfe gesehen oder gehört? Nein – aber in der Nacht habe ich seltsame Stimmen gehört – ich habe mir damals aber nichts dabei gedacht und habe einfach wohlig warm weiter geschlafen.

Und wenn es doch Wölfe waren, damals?

Ich beginne zu grübeln.

Warum haben mich meine beiden kleiner Töchter, Cécile und Olivia am Tag meiner Abreise ins Val Colla so seltsam anders verabschiedet? Habe ich mir dies nur eingebildet? Und beim Zurückschauen bei der Abfahrt, warum hat mir da etwas gesagt: “Geh nicht.” – Wie eine innere Stimme. Schliesslich liebe ich meine Familie und trage eine Verantwortung. Und warum war der Mondaufgang heute Vormittag so anders, der Mond war riesig gross!

Und wie war das mit den Stimmen, die ich im Mai 2016 nachts gehört habe?

Und überhaupt:

Gibt es im Val Colla auch Bären?

Ich beschliesse folgendes: Ich fahre zwar ins Val Colla, aber meinen Aufstieg zur Alpe Pietrarossa und meine Solo-Übernachtung im Zelt werde ich nochmals überdenken.

Am Vorabend vor dem geplanten Aufstieg – schon im Val Colla – telefoniere ich lange mit meiner Frau Arlette. Arlette unterstützt mich immer bei meinen Solo-Touren – sie ist ebenso vom Outdoor-Virus infiziert wie ich. Unser Gespräch tut gut, es beruhigt mich. Ich spreche von meiner Angst, von meinen Internet-Recherchen, von meinen Beobachtungen beim Abschied von meiner Familie bei der Abfahrt. Schlussendlich beschliesse ich, nicht solo auf der Alpe Pietrarossa im Zelt zu übernachten. Mein Gesicht verliere ich deshalb nicht, ganz bestimmt nicht.

Ich gehe zu Bett. Morgen wird ein guter Tag.

Der innere Schweinehund hat gesiegt.

Oder doch nicht? Nach ein paar Stunden Schlaf sieht die Welt ganz anders aus. Der rationale Denker in mir gewinnt wieder die Oberhand. Noch im Bett kalkuliere das Risiko anhand der nüchternen Fakten sehr genau, gehe Fakt für Fakt nochmals durch – sorgfältig abwägend. Und schlussendlich gewinnt der Outdoor-Explorer. Wölfe greifen den Menschen nicht an.

Go out and up there.

Ich sende Arlette eine Nachricht – es ist noch zu früh für ein Telefongespräch: “Heute ist ein neuer Tag. Meine Angst ist überwunden. Ich mache mich auf zur Alpe Pietrarossa, inklusive Zelt.”

Und prompt antwortet Arlette: “Mach’s gut. Das klappt schon.”

Danke. Los.

Dank meiner neuen Ultralight Ausrüstung ist der Aufstieg ein Klacks, verglichen mit dem Aufstieg im Mai 2016. Ich erreiche die Alpe Pietrarossa schon nach weniger als zwei Stunden. Fit. In Höchstform. Stolz. Stolz auf meine körperliche Form, stolz aber vor allem darauf, meinen “inneren Schweinehund” besiegt zu haben.

Am Nachmittag baue ich das Zelt auf, bereite mich vor auf den Abend und die Nacht, geniesse und fotografiere das Licht – die winterlichen Farben, den kühlen Wind. Die Einsamkeit. Und feiere meinen Sieg über mich selber. Das grösste aller Gefühle.

Bild: Tarptent StratoSpire1 auf der Alpe Pietrarossa.

Und übrigens:

Einen Wolf habe ich nicht gesehen.
Und in der Nacht auch keine Stimmen gehört.

Aber eine der schönsten Touren meines Lebens gemacht.

Das ist der Lohn, wenn du deine Angst besiegst.

Bilder hier.

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  1. Wölfe im Val Colla; Ja aber, der oder die haben Angst vor verschwitzten Menschen. Auch wenn Sie Speck heissen. Also keine Angst vor Wölfen! Besser: lerne die Wölfe kennen. Ein faszinierendes Tier zu Unrecht missverstanden.

  2. Hoi Schatzi. Es gibt viel fiesere kleine Biester die einem eher Angst machen können. Aber auf dieser Höhe von deinem Lieblingsplatz gibt es Sie glücklicherweise nicht.
    Und wenn du je einmal einen Wolf zu sehen bekommst; dann hast du Glück! Und fötele nicht vergessen…
    Toll hast du es gemacht. Ein Wahnsinns Erlebnis!
    Irgendwann komme ich mit. Es muss aber nicht zwingend -15 Grad sein. + wäre nicht schlecht….

Webmentions

  • Ultralight Family Trekking – top. – speckund.me January 28, 2018

    […] Solo Trekking hoch zur Alpe Pietrarossa (siehe hier, hier, hier, hier – ich liebe die Alpe Pietrarossa – immer wieder!) – fantastisch! […]