Erneut bin ich unterwegs zu meiner Lieblingsalp im Südtessin, zur Alpe Pietrarossa im Val Colla. Immer wieder zieht es mich dahin – warum weiss ich selber auch nicht. Schon auf der Tour zur Alpe Pietrarossa im Mai 2016 habe ich mir vorgenommen, die gleiche Tour im Winter zu wiederholen.
Es ist der 9. Januar 2017.
Es ist so weit.
Direkt oberhalb der letzten Häuser von Barchi di Colla verlasse ich den Karrenweg und wähle den steilen ruppigen Fussweg hoch zur Alpe Pietrarossa. Er führt nahezu ohne Kehren der Falllinie nach zur Alpe; schmal und bisweilen kaum erkennbar – manchmal versperren grössere Felsblöcke den Weg – aber die Aussicht über die Runse auf die gegenüberliegende Talseite ist umwerfend: Winterliche Sand-, Ocker- und Brauntöne kontrastieren wunderschön mit weissen Birkenstämmen – gleissend und grell moduliert das Mittagslicht die Geländestrukturen der winterlichen Landschaft.
Es ist kalt und still im Val Colla, das Thermometer zeigt -5 °C. Das Tal ist diesen Winter bislang weitgehend schneefrei – nur ein paar ältere Schneeresten verzieren wie Puderzucker die Berggipfel und in Schattentäler. In der weiteren Ferne ist das leise Rauschen eines Bergbaches zu hören. Es ist kalt, die zahlreichen kleinen Bäche und Rinnsale sind zugefroren.
Ultralight Ausrüstung
Diesmal ist der Aufstieg zur Alpe Pietrarossa leicht, ja schon fast ein Kinderspiel – verglichen mit dem Aufstieg im Mai 2016. Die Investition in meine neue Ultralight-Ausrüstung hat sich gelohnt: Mein Rucksack (Lowe Alpine Cholatse II 65-75 (meine Version ist nicht mehr lieferbar, Link zum Vorgängermodell)) ist ein wahres Leichtgewicht und wiegt alles in allem, und voll gepackt nur wenig mehr als 12 kg; und ich bin gespannt, wie sich mein neues Zelt (Tarptent StratoSpire1), die neue Isomatte (Therm-a-Rest Neoair XLite) und mein neuer Daunenschlafsack (Cumulus Teneqa 850) in den eisigen Wintertemperaturen schlagen. Die neuen Trekkingstöcke (LEKI Thermolite XL) unterstützen beim Aufstieg, sie verbessern das Gleichgewicht und geben Sicherheit in schwierigen, engen und sehr steilen Wegpassagen, zudem vermindern sie Verspannungen im Rücken- und Nackenbereich. Und nachts werden sie als sturmsichere Poles (Zeltstangen) im StratoSpire1 verwendet.
Wie sind die Windverhältnisse wohl oben auf der Alpe Pietrarossa, bei meinem Lagerplatz auf knapp 1’700 m ü.M.? Meine Windjacke (Bergans Letto Jacket Hardshell) hält beim Aufstieg die wilden und eiskalten Windböen ab. Ich habe die Jacke in blau – sie ist eines meiner Lieblingsstücke und jede Woche mehrmals im Einsatz.
Wasser im Winter
Ich trage wie üblich nur wenig Wasser mit mir, um das Gewicht so tief wie möglich zu halten. Schnee schmelzen kommt nicht in Frage, zu alt sind die Schneeresten. Schön wäre es, wenn ich unterwegs meine drei Wasserbeutel (mit ingesamt 3 Litern Kapazität) an einem Bach mit fliessendem Wasser füllen könnte, um es dann nur noch die letzten Meter zum Lagerplatz tragen zu müssen – aber woher soll ich das Wasser nehmen?
Auf der Höhe der Alpe Pietrarossa überquere ich mehrere gefrorene Bäche – massive surreal-schöne Eisformen – ein attraktiver Anblick wie in der Eiszeit. Unter einem der gefrorenen Bäche höre ich ein ganz leises Plätschern. Mit meinen Trekkingstöcken hacke ich das Eis auf – und werde fündig – super! Das Füllen der drei Wasserbeutel dauert keine zehn Minuten – ich habe genügend Wasser für eine Nacht! Mit meinem Wasserfilter (Sawyer MINI Water Filter) filtere ich das Wasser. Dies wäre vermutlich nicht notwendig – das Wasser scheint rein, pur und klar zu sein, und “Schmutzverursacher” und “Wasser-Verunreiniger” sind weit und breit keine in Sicht – aber mit dem Wasserfilter bin ich ganz sicher. Ich trage das kleine Filtersystem auf all meinen Touren immer mit, mit einem Nettogewicht (Filter ohne Beutel) von nur 38 g und der minimalen Packgrösse ist es geradezu prädestiniert für Ultralight-Touren.
Alpe Pietrarossa
Die Alpe Pietrarossa ist verlassen im Winter, und auch diesmal nagt der Winter schwer an den Gebäuden: Der Sturm hat einen Teil eines Unterstandes für die Ziegen weggeblasen, und die Alp sieht “zerzaust” aus – verlassen, einsam und leer. Aber es fallen kleine Änderungen gegenüber dem letzten Jahr auf: Die Wand, von der im letzten Winter 2015/16 der Verputz durch das gefrierende Wasser abgesprengt worden ist, wurde geflickt; und ein zweites Solarpanel wurde an einem der Gebäude montiert. Abgesehen davon jedoch scheint die Alpe Pietrarossa praktisch unverändert – an diesem Ort bleibt die Zeit stehen – und das ist auch gut so.
Nach der kurzen Rast auf der Alpe Pietrarossa mache ich mich auf den Weg zu meinem Lagerplatz. Ich möchte am exakt gleichen Ort wie im Mai 2016 übernachten. Wenige Meter nur folge ich dem offiziellen Wanderweg, der zum Passo San Lucio an die Landesgrenze Schweiz-Italien und rund ums Val Colla führt, dann verlasse ich ihn und steige auf der Wiese auf, direkt zu meinem Lagerplatz. Der Weg führt ungefähr eine halbe Stunde über die mit grossen braunen Grasbüscheln bewachsene Wiese, entlang Furchen, durch Rinnen hoch – ein paar Schneeresten lockern das braune Wiesengras optisch auf – und schlussendlich stehe ich am exakt gleichen Ort wie im Mai 2016.
Ich bin auf “meiner” Wiese angekommen.
Soll ich zuerst das Licht geniessen und fotografieren oder das Zelt aufbauen?
Ich baue mein Zelt genau an derselben Stelle wie im Mai 2016 auf – innert weniger Minuten steht mein Zelt einwandfrei und windstabil. Nun noch die Isomatte aufblasen und den Schlafsack ausrollen – und fertig.
Ich lege mich ins trockene Gras auf den kalten Boden – noch liegt Schnee zwischen den Grasbüscheln. Das Licht ist fantastisch, es lädt ein zum Malen mit der Kamera – die Farben werden von Minute zu Minute intensiver.
Sieh die Gräser,
wie sie sich wiegen im Wind,
wie sie glänzen und strahlen im Licht,
wie sie zeitlos und frei über der Welt stehen.Das ist es, was ich suche da draussen – in der Einsamkeit.
Die Freiheit, die Weite, und die Zeit.
Und genau wie Reinhard Mey in seinem Lied “Über den Wolken” diese Freiheit beschreibt, genau so fühle ich mich jetzt. Auszug aus dem Songtext von Reinhard Mey’s “Über den Wolken”:
Über den Wolken
muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
alle Ängste, alle Sorgen
sagt man
blieben darunter verborgen
und dann
würde was uns gross und wichtig erscheint
plötzlich nichtig und klein
Ich und mein Schatten – gross und frei.
Genug geträumt, zurück zur Realität
Gleich nach dem Sonnenuntergang sinkt die Temperatur rapide – die Kälte reisst mich abrupt aus meinen Tagträumen – Zeit für ein warmes Abendessen! Mit frostklammen Fingern starte ich den Gaskocher. Als Entrée trinke ich eine Gemüsebouillon, zubereitet mit dem gefilterten Alpe Pietrarossa Wasser aus dem Eisbach, und zum Hauptgang gibt es eine grosse Portion Kartoffelpürée. Fantastisch. Was will man mehr?
Doch viel Zeit zur Musse beim Abendessen bleibt nicht, denn der Mond geht hinter dem Berggipfel des Gazzirola (2’116 m ü.M.) auf. Noch für wenige Augenblicke beleuchtet die untergehende Sonne den Gazzirola in warmem Abendlicht, dann wird das Licht von Sekunde zu Sekunde kälter, und schlussendlich ist es innert weniger Minuten dunkel und eiskalt.
Moon over Gazzirola (2’116 m ü.M.), in leichter Anlehnung an Sting’s “Moon over Bourbon Street“.
Die Nacht und die Technik
Im Schein meiner Stirnlampe bereite ich mich auf die Nacht vor. Schon jetzt ist es draussen deutlich unter -5 °C, und auch im Zelt herrschen frostige Temperaturen. Das Wasser in den Wasserbeuteln, den kleinen Wasserfilter und die Esswaren nehme ich ins Zelt. Merino-Unterwäsche (Icebreaker) als Baselayer, einen Thermofleece-Pullover (Arc’teryx), als Überhose und Wärmeschutz eine Regenhose (The North Face) und eine Daunenjacke mit 850 cuin (Marmot) sollten reichen; dazu eine Thermofleece Mütze und Thermofleece-Handschuhe (66North). Und dann ab in den Schlafsack. Es ist beissend kalt. Schon bald wird mir warm, und nach ein paar Minuten sind auch meine Füsse wieder warm – dank zwei Paar Merino-Thermosocken.
So sehr ich die Einsamkeit liebe und für meine Kreativität und für neue Ideen brauche, so sehr schätze ich meine tolle Familie – Arlette, meine Frau und unsere beiden Töchter Cécile und Olivia. Alle drei haben mitgefiebert und mich angefeuert. Nun will ich unbedingt mit meiner Familie noch vor dem Einschlafen sprechen und versuche eine Videoverbindung mit Skype nach Hause aufzubauen – erfolgreich! Es ist schon toll, mitten in der Einsamkeit – in the middle of nowhere – ganz allein und weitab von der Zivilisation eine Videoverbindung mit meiner Familie zu Hause, in guter Qualität!
Zufrieden versuche ich, ein paar Stunden zu schlafen. Der Wind zerrt in heftigen Böen am Zelt. Erst spät in der Nacht flacht er ab und es wird still. Kein Hauch, kein Geräusch, kein Rascheln, kein Vogel, kein Rauschen eines Baches. Nichts. Vollkommene Ruhe.
Die Qualität meiner Ausrüstung (Zelt, Isomatte und Schlafsack) überzeugt auf der ganzen Linie. Trotz gemessener frostiger -15 °C während der Nacht friere ich keine Sekunde, sondern entspanne mich bequem im wohlig warmen Schlafsack.
06.00 Uhr, es ist noch dunkel.
Mir graut vor dem Morgen. Genauer gesagt vor dem Moment, bei dem ich den warmen Schlafsack und das Zelt verlassen muss. Das Wasser in den Wasserbeuteln ist gefroren, auch das Wasser in der Sigg-Trinkflasche. Und dummerweise auch meine Wasserfilter. Wasserfilter dürfen nicht gefrieren, sonst wird die Filtermembran zerstört, und das Filtersystem muss ersetzt werden. Schade.
Es ist kalt draussen. Aber es muss sein, also los.
Als Lohn für meinen Mut überrascht mich vor dem Zelt ein tolles Morgenrot und das sanfte, warme und stille Licht auf den Bergrücken. Und für ein paar Augenblicke wird sogar der Himmel zum Feuerwerk.
Die Ruhe. Cima di Fojorina.
Die Ruhe. Monte Baro.
Das Feuerwerk. Himmel über dem Berggipfel des Gazzirola
Und nur wenige Minuten nach diesem Feuerwerk wird das Licht grau und farblos. Wolken ziehen auf. Es ist definitiv Zeit für den Aufbruch ins Tal.
Die Übernachtung im Zelt auf der Alpe Pietrarossa würde ich in wenigen Worten so zusammenfassen:
extrem.kalt. extrem.hart. definitiv.ausserhalb.der.komfortzone.
absolut.unbezahlbar. in.den.top.5.meines.lebens.Ich würde sie nie missen wollen.
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Thank you for reading.
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Mega schöni Bilder und en mega spannende Text. Ich freu mich scho jetzt wenn eusi Familie mal zäme gat go zälte ufs Bödeli oder i’d Alpe Pietrarossa.☺
Danke! Ja, das müssen wir unbedingt tun – das wird toll. Die ganze Familie da oben.
Mega toller Blog, echt!
Können wir vielleicht auch wieder mal gehen? Wir können auch ein paar Wochen gehen. Ich habe eine Idee gehabt: Wir könnten doch irgendwo zelten, am nächsten Tag ziehen wir weiter. Aber diese Ferien könnten wir doch gehen!
Noch zu deinem Blog: Mega cool und toll (wie schon gesagt) 🙂 und super schöne Bilder!
Vielleicht kannst du ja auch mal einen Blog über mich machen? Und natürlich Olo?
Cécerli 😉
Danke Cécile! Mich zieht es auch wieder outdoor. Ich denke, das ist ein ‘Familienvirus’, den wir da haben. Wie wär’s mit Trekking im Tessin bei Sweetie?
Jaaa! Sweety!!!!