Wie war die Wetterprognose von MeteoSwiss, YR und msn Weather? Alle drei Wetterdienste haben für diese Nacht leichten Wind mit 2 Metern pro Sekunde aus südwestlicher Richtung prognostiziert – gegen Mitternacht drehend auf nordöstliche Richtung. Ein laues Lüftchen.
Und nun das Inferno da draussen! Mein Zelt fühlt sich an, als ob der Wind mit mindestens 60 bis 80 Stundenkilometer tobt. Die Wind- resp. Sturmböen rütteln gnadenlos und unbarmherzig am Zelt – an Schlaf ist unmöglich zu denken.
Ich bin ja nun beileibe kein Trekkinganfänger – mein Zelt begleitet mich Sommer und Winter – im rauhen Klima Islands bei 1°C und 40 Stundenkilometer Wind an der Sprengisandsleið (auch Sprengisadur genannt) – oder hoch oben auf der Alpe Pietrarossa mitten im Winter bei -15°C. Immer. Ich liebe es, outdoor zu sein. Auf du mit den Elementen und mir.
Heute habe ich eines der besten Ultralight Zelte dabei, das Tarptent StratoSpire1 – es ist dank seiner Konstruktion gut geeignet für starke und unbeständig drehende Winde. Die originalen Heringe habe ich durch stabile Hilleberg-Y-Peg-Heringe ersetzt – sie sitzen sicher und fest im Boden, die Abspannung ist gleichmässig und straff, meine beiden LEKI-Thermolite XL-Teleskop-Trekkingstöcke sind die “rocksoliden” Zeltstangen. Kurz: Die Statik des Zeltes ist perfekt – alles ist perfekt.
Auch der Sturm ist perfekt
Hält mein Zelt? Was, wenn nicht?
Aber mein Standort?
Nur mein Standort ist alles andere als perfekt. Mein Zelt befindet sich direkt auf dem Grenzkamm zwischen der Schweiz und Italien, zwischen dem Cima di Fojorina (1809 m.ü.M.) und dem Passo di Fojorina (1688 m.ü.M.), die exakte Position ist 46°03′48.318″N 9°04′31.207″E, 1740 m.ü.M.. Als ich vor ein paar Stunden hier angekommen bin, war noch praktisch kein Wind.
Und jetzt … hätte ich doch das Zelt nicht direkt auf den Grat gestellt – ich weiss – nur ein paar Meter unterhalb – aber wohin denn? Mein StratoSpire1 würde mit 2 x 2 m nur eine kleine, einigermassen horizontale, ebene Stelle brauchen – aber selbst dies ist unmöglich: Das Terrain auf der Schweizer Seite ist zu steil – genauso steil wie auf der italienischen Seite; es ist nirgends auch nur annähernd horizontal oder eben, auch nicht für mein kleines Tarptent. Und auf der italienischen Seite ist das “Riserva naturale integrale”, das Valsolda, und da ist striktes Zeltverbot. Und abgesehen davon: Jetzt ist es ohnehin zu spät. In diesem Sturm kann das Zelt auf keinen Fall umgestellt werden. Viel zu gefährlich.
Endlich Ruhe
Erst nach Mitternacht werden die Böen schwächer. Endlich Ruhe. Geschafft. Müde schlafe ich ein.
Doch der Reihe nach
Begonnen hat alles mit einer Idee. Wie wäre es mit einer Zeltnacht auf dem Cima di Fojorina (1809 m.ü.M.)? On Top of Val Colla quasi? Mit Sonnenuntergang am Abend und Sonnenaufgang am Morgen? Ein Traum!
Quelle und Copyright: Bundesamt für Landestopografie swisstopo, www.geo.admin.ch
Wetter, Licht, Material und ich
- Alle ‘meine’ Wetterdienste MeteoSwiss, YR und msn Weather sind sich einig: Das Wetter am 24. und 25. Mai 2017 ist gut. Kein Niederschlag. Kein Gewitter. Kein Sturm.
- Von SunCalc (hier und hier, resp. sonnenverlauf.de) wird der Zeitpunkt des Sonnenaufgangs am 25. Mai 2017 am Cima di Fojorina auf 05.42 Uhr berechnet. Das Licht wird gut sein!
- Meine Outdoor-Ausrüstung fällt unter die Kategorie “Ultralight”. Ultralight heisst, dass die grössten drei Ausrüstungsgegenstände (Zelt, Schlafsackmatte und Schlafsack) zusammen nicht mehr als 3.0 kg wiegen sollen. Die gesamte Ausrüstung, inklusive Verpflegung und Wasser für zwei Tage wiegt ungefähr 12 kg – ja, das ist ultralight!
- Ich bin fit. Ein wenig angeschlagen vom Stress zwar, aber doch einigermassen fit.
Es stimmt also alles …
… los geht’s
Der Weg (.gpx-Track auf maps.google.com) führt von Cimadera (1105 m.ü.M.) steil durch lichte Buchenwälder, höher und höher. Fantastisch – diese hellgrün leuchtenden Blätter vor dem stahlblauen Himmel!
Stellenweise richtig steil und scheinbar endlos führt der Weg immer höher und höher bis zur Alpe beim Cima alla Pianca (1599 m.ü.M.) – die Alpe liegt direkt am Fuss des Cima di Fojorina (1809 m.ü.M.).
Trotz meiner Ultralight-Ausrüstung ist der Aufstieg auf den Cima di Fojorina hart. Auf den letzten 200 m vor dem Gipfel wird der Trail extrem steil und technisch knifflig – sehr gutes Gleichgewicht und eine gehörige Portion Schwindelfreiheit sind nötig.
Cima di Fojorina
Nach 2 Stunden 30 Minuten ist es geschafft. Ich stehe auf dem Gipfel des Cima di Fojorina (1809 m.ü.M.). Exakt auf der Grenze von der Schweiz zu Italien. Ein Schweizer Wanderwegweiser und das hölzerne Gipfelkreuz zieren den Gipfel. Zwei Triangulationspunkte der swisstopo befinden sich auf dem Cima di Fojorina, sie wären mit ihrer horizontalen Fläche gut geeignet für die Übernachtung im Zelt. Aber sie sind sehr windexponiert und damit zu gefährlich – und auch viel zu unromantisch für eine Zeltübernachtung – ich will auf richtigem Grasboden übernachten.
Abendstimmung kurz vor dem Einbruch der Nacht. Tarptent StratoSpire1 oberhalb des Passo di Fojorina, dahinter der Cima di Fojorina.
Abstieg zum Passo di Fojorina
Also geht es weiter dem Gipfelgrat entlang und schliesslich auf einem steilen Abstieg hinunter in Richtung Passo di Fojorina (1688 m.ü.M.). Schon von weit oben kann ich eine Stelle ausmachen, die sich als Zeltplatz eignen würde, etwa 250 m vor dem Passo di Fojorina. Es ist die einzige einigermassen horizontale, ebene Stelle überhaupt – sie liegt ungefähr 5 m von der Landesgrenze entfernt auf Schweizer Boden. Die exakte Position ist 46°03′48.318″N 9°04′31.207″E, 1740 m.ü.M..
Der Platz ist idyllisch, umgeben von Millionen von niedrigstämmigen Bergkiefern.
Ich bin vollkommen allein, den ganzen Tag über habe ich bislang noch keine einzige Menschenseele gesehen.
Die Bergluft ist fantastisch; die Aussicht ebenfalls – hinunter in die Schweiz ins Val Colla – am Horizont sind die grossen Alpengipfel des Wallis zu erkennen, und hinunter nach Italien ins Valsolda.
Zwei Stunden später beginnt dann der Wind aufzufrischen – und der erste Teil der Nacht wird unruhig.
Der Morgen
Der Wecker weckt mich um 05.15 Uhr nach einer kurzen Nacht. Es ist nun windstill. Der Sonnenaufgang wird in ungefähr 27 Minuten sein, um 05.42 Uhr. Genug Zeit also, um sich warm anzuziehen und nach draussen zu gehen. Es ist recht frisch, nur ungefähr 6°C – aber ich bin ja auch immerhin auf 1740 m.ü.M. und es ist auch erst Ende Mai.
Draussen begrüsst mich ein fantastischer Ausblick nach Italien; im Vordergrund ist der Lago di Piano (276 m.ü.M.) und dahinter der Lago di Como (197 m.ü.M.). Die Idylle ist überwältigend. Und nur ganz langsam – nach und nach erwachen in den Felsen (Gestein: Hauptdolomit) der Gebirgskette der Cima di Fojorina die ersten Vögel. Ob es hier Adler gibt? Oder Hasen, Füchse, Wölfe, oder Bären?
Der Bergrücken des Passo San Lucio (1541 m.ü.M.) sieht aus wie schön bemalt durch das weiche Streiflicht der aufgehenden Sonne. Die italienische Seite liegt schon in der Sonne, die Schweizer Seite ist noch im Schatten. In der Mitte ist die Grenze von der Schweiz zu Italien, sie ist nicht sichtbar.
Passo San Lucio (1541 m.ü.M.). Nicht sichtbare Grenze zwischen der Schweiz und Italien.
Unsere Grenzen
Ich weiss nicht, wie oft ich auf meiner Tour entlang des Gebirgskamms der Cima di Fojorina und am Passo di Fojorina die Landesgrenze überschritten habe. Es ist mir auch egal. Viel wichtiger für mich ist, dass ich auf dem Cima di Fojorina und auf dem Passo di Fojorina wieder einmal über meine inneren Grenzen hinausgewachsen bin.
Ich habe den Gipfel erreicht, und ich habe den Sturm überlebt.
Wir Menschen sind es, die fast alle dieser Grenzen machen – politische, geographische, gesellschaftliche, kulturelle, persönliche, mentale Grenzen. Viele dieser Grenzen sind rein in unserem Kopf – als mentale Barrieren – und wir machen sie uns (fast) alle selber. Ich frage mich nur, warum eigentlich? Jede Grenze wird fallen – irgendwann – da bin ich sicher.
In der Natur gibt es kaum Grenzen – wir Menschen aber errichten Grenzen, denken in Grenzen – wir lieben Grenzen und verteidigen unsere Grenzen wie eine Religion – anstatt sie zu überwinden und zu eliminieren.
Jedes Mal, wenn ich meine persönlichen Grenzen überwinde, entdecke ich Neues, Freiheit, Glück, und ich wachse daran.
Also los.
Home
Thank you for reading.
You can sign up for my newsletter here.
Sehr schöne Blog! Ich würd au mal gern mitcho, go Zälte, au wenns en harte Ufstieg isch. Ich finds schön dass du wieder emal din Traum erfüllt häsch!(= (: (;
Danke, Olivia. Ja, jetzt gömmer denn wieder e mal mitenand. Und ich bin sicher, dass du das au schaffsch. Es isch de Hammer, ganz allei da obe. Die Rueh!
Fantastic images Christian, you have inspired me to visit Switzerland one day.
Thank you Lyle! Yes, please let me know, I will carry your tripod. 😉
Hallo Christian, den Ort den du wieder gewählt hast ist ein Traum. Du schaffst es immer wieder einen zu zeigen dass nichts unmöglich ist und wie wir mehr die Natur geniessen und respektieren sollten/sollen.
Wenn du einmal Gesellschaft haben möchtest wäre ich gerne auf einer deiner Touren dabei.
Mach weiter so und lass uns an deinen super Outdoor Erfahrungen teilhaben und motiviere uns diese selber zu erleben!
Hallo Kevin, danke dir! Ja. Ich bin selber noch ganz geflasht. Es braucht so wenig zur Realisierung der eigenen Träume. Die Cima di Fojorina Tour hat am Mittwoch Morgen früh begonnen, um 12.00 Uhr war ich in Cimadera und habe mich an den Aufstieg gemacht. Und exakt 24 Stunden später war ich wieder zurück in Cimadera. Doch diese 24 Stunden werden wohl immer in meiner Erinnerung bleiben. Es gibt einfach Dinge, die kann man nicht kaufen. Man muss sie tun. Auch dir viel Freude outdoor – du bist auf der ‘richtigen Schiene’.
Wunderschöne Fotos, spannend geschrieben und gute Gedanken. Mach weiter mit deinen Touren und öffne deine Grenzen. All die Füchse, Wölfe, Adler und vieles mehr was dort oben rennt, fliegt und kriecht, kennen auch keine Grenzen…
Weiterhin viel Spass, beim planen, erleben, durchbeissen, schwitzen, niederschreiben und erinnern! Han di gern!
Danke, danke!
Toll, diese Bilder! C
Danke! Und das Schönste ist, wir waren auf der anderen Talseite, bei der Alpe Pietrarossa, gäll s’isch schön gsi!