“Du bleibst zu Hause.” Björn Eriksson streicht seinem Hund Almjúndir liebevoll über den Kopf. “Da draussen ist es viel zu gefährlich.” Björn ist ein richtiger Víkingurinn – ein Vikinger und der Kapitän eines kleinen Fischerbootes in Ulein.
Almjúndir schaut Björn mit grossen, traurigen Kulleraugen an. “Bless, bis morgen, mach’s gut”. Björn packt seine Ausrüstung und macht sich auf zum Hafen – zur Bork, seinem schönen alten Fischerboot.
Bis zum Hafen sind es nur wenige hundert Meter, Björn hofft auf einen erfolgreichen Fang – trotz schlechter Wetterprognose. Tiefe Wolken und frischer Wind sind angesagt. Es ist winterlich kalt, bald wird die Bork aufgrund der Eisschollen nicht mehr auslaufen können.
Knud und Sigùr warten schon auf Björn. “Nimmst du denn Almjúndir heute mit?” fragt Sigùr erstaunt. Erst jetzt bemerkt Björn seinen kleinen Hund – der schlaue Almjúndir ist ihm bis zum Hafen gefolgt, Björn hat ihn gar nicht bemerkt.
“Eigentlich nicht, aber …” Björn schaut Almjúndir tadelnd an. “… du bist mir gefolgt, du kleiner Schlingel … – also gut, dann kommst du halt mit – wenn Knud und Sigùr einverstanden sind.” Björn ist stolz auf Almjúndir, die beiden sind seit Jahren richtige Freunde und ein unzertrennliches Team und gehen durch dick und dünn. “Sicher, kein Problem.” Knud und Sigùr sind schon wieder an der Arbeit, zusammen mit Björn bereiten sie die Bork für den nächtlichen Fang vor.
Mit einem grossen freudigen Satz springt Almjúndir auf die Bork und setzt sich stolz und mit glänzenden Augen ganz vorne auf den Bug.
Wenige Stunden später reisst Björns Stimme Almjúndir aus dem Schlaf. Es ist stockdunkel, mitten in der Nacht. Land ist schon längst keines mehr in Sicht, die Bork befindet sich auf offener See. Der Wind hat aufgefrischt, tiefe Wolken und Nebelschwaden geistern gespenstisch und dunkel über das Schiff.
“Ich kriege es nicht hin.” Björn klingt verzweifelt. Die Stromversorgung der Bork ist ausgefallen, ein Kurzschluss hat die gesamten Instrumente lahm gelegt. Fieberhaft konzentriert und mit aufgesetzten Stirmlampen versuchen Björn, Knud und Sigùr die Elektronik wieder zum Laufen zu bringen.
Almjúndir spürt die gespannte Nervosität bei den drei Männern; so aufgewühlt hat er die drei noch nie gesehen. Björn ist eigentlich die Ruhe selbst, nichts und niemand kann ihn aus der Ruhe bringen – er ist eben der Víkingurinn – der Vikinger, wie ein Fels in der Brandung. Aber jetzt sieht alles ganz anders aus. Hektische Nervosität und Angst liegen in der Luft. “Komm schon, komm schon.” Björn gibt nicht auf, er gibt nie auf – ‘never ever give up’, einer seiner Lieblingssprüche – er ersetzt elektrische Sicherungen, prüft die Batterien und Notstromaggregate, rüttelt an den elektrischen Kontakten. Alle Geräte werden aus- und wieder eingeschaltet – immer wieder – aber nichts funktioniert.
“Wenn wir kein Radar, keinen Funk, keine Navigationssysteme haben, wie wollen wir dann wieder zum Hafen finden?” Sigùrs Frage klingt leise und verzweifelt. “Die Wolken verunmöglichen die Sicht zum Himmel, wir können nicht nach den Sternen navigieren.” Knud sitzt resigniert und still da – er weiss auch nicht weiter. Und Björn versucht es weiter. Immer wieder geht er hinunter in den Bug der Bork, in den Maschinenraum und wieder hoch auf die Brücke zu Knud, Sigùr und Almjúndir. Die Brücke ist der einzige einigermassen gemütliche, trockene und windgeschützte Ort an Bord. Björn ist still, und auch Knud und Sigùr schweigen verzweifelt, sie starren tiefe Löcher in die dunkle Nacht.
Da – plötzlich steht Almjúndir auf, streift Björn um die Beine und beginnt zu bellen. Björn schaut zu ihm hinunter. “Was ist denn?” Björns Blick ist fragend. Almjúndirs Bellen ist bestimmt, er rennt zur Tür der Brücke und kratzt daran. “Nein nein, da gehen wir jetzt nicht hinaus. ” Björn ist gereizt, aber Almjúndir gibt nicht auf. Schlussendlich öffnet Björn die Tür. Im Nu ist Almjúndir draussen verschwunden, im rauhen Wind und im peitschenden Regen, an Deck. Björn folgt ihm.
Almjúndir setzt sich hinter den vorderen Mast. Sein Bellen ist sogar über den Sturm hinweg zu hören – immer wieder und wieder bellt er – laut und in wehmütiges Heulen übergehend. Fragend schaut ihn Björn an – so hat er Almjúndir noch nie heulen gehört.
“Was ist denn mit dir los?” “Was …”
Das Wort bleibt Björn im Hals stecken. Ein lautes Geräusch fährt ihm durch Mark und Bein. Wie angewurzelt erstarrt er, auch Almjúndir zuckt zusammen. Da, schon wieder. Laut und deutlich ist es zu hören, sogar noch lauter als Almjúndirs Bellen und Heulen zuvor. Ganz nah, direkt an der Bork, nein gleich daneben, nein darunter – wie der Gesang eines Wales, unheimlich laut und nah, schauerlich schön.
Hvalur – Wal
© Gesang des Buckelwals; Quelle https://www.schoener-tauchen.de
Schlagartig wird Björn klar, dass ein riesiger Wal direkt unter oder neben der Bork ist, da draussen, in der dunklen und schwarzen Nacht – er ist aber im Sturm und wegen der peitschenden See nicht zu sehen. Für Björn ist klar, was Almjúndir mit seinem Bellen und Heulen gemacht hatte – er hat den Wal gerufen.
Der grosse Wal singt weiter, laut und traurig, melancholisch – markdurchdringend und schrill. Auch Knud und Sigùr stürmen von der Brücke zu Björn und Almjúndir. So hatten Sie einen Wal noch nie singen gehört.
“Almjúndir hat den Wal gerufen.” So irre es klingt – Björn zweifelt nicht daran. Und Almjúndir und der Wal bellen und singen weiter – lauter noch als das Heulen des Sturms.
Aurora Borealis, Norðurljós – Nordlicht
Und plötzlich – da – ein helles Licht am Himmel! Der Mond strahlt durch die Wolken, und die Wolkendecke reisst auf. Der Sturm wird schwächer, und es wird heller und heller.
Weisse und grüne Farbreflexe zucken über den Himmel – sogar rot und violett, surreal leuchtende Funken und Farben tanzen elegant und tauchen die Bork in ein märchenhaftes und phantastisches Licht – eine Aurora Borealis; Norðurljós – das Nordlicht direkt über der Bork!
Die Farbenpracht am Himmel lässt Björn, Knud und Sigùr fasziniert innehalten, beinahe gelähmt und wie in Trance stehen die drei Männer an Deck und staunen – bis sie das Bellen von Almjúndir aus ihren Träumen reisst. Beinahe hätten Björn, Knud und Sigùr vergessen, dass die Sterne ihnen den Weg nach Hause weisen werden!
Schnell hastet Björn ans Steuer auf die Brücke, Sigùr wirft die Maschine an, und Knud hievt den Anker. Björn bestimmt anhand der Sterne die aktuelle Position und plant den Kurs nach Hause – dann nimmt die Bork Kurs auf den Hafen. Lange begleitet sie Balena, der grosse Wal – wie ihn Björn nennt – bis es hell wird und die Bork sicher in Küstennähe ist. Dann singt er zum letzten Mal und taucht schliesslich ab.
Danke Balena!
Björn, Knud und Sigùr wissen, dass Ihnen zu Hause diese Geschichte niemand glauben wird.
Almjúndir hatte Balena, den grossen Wal gerufen, ihnen zu helfen. Balena hatte den Mond, die Sterne und das Nordlicht gerufen, Ihnen zu helfen. Und die Sterne haben den Männern die Richtung gezeigt, in die sie nach Hause fahren sollen.
Unglaublich.
Zurück im sicheren Hafen schauen sich die drei Männer an. Still geben sie sich die Hand und machen sich auf den Weg nach Hause. Björn nimmt Almjúndir sanft in den Arm und drückt ihn.
Danke Almjúndir!
“Danke, Almjúndir, danke. Du hast uns gerettet, du hast Balena gerufen, und du und Balena habt zusammen mit dem Mond, den Sternen, dem Nordlicht die Wolkendecke aufreissen lassen, so dass wir wieder etwas sehen konnten und die Sterne uns den Weg nach Hause weisen konnten. Danke Almjúndir.”
Und als Björn zusammen mit Almjúndir die Bork verlassen, hören sie Knud und Sigùr von weit her rufen:
“Björn – kannst du Almjúndir wieder mitnehmen das nächste Mal, bitte? Danke Almjúndir!”
Björn winkt ihnen zu. Ja.
Und er blickt Almjúndir stolz in die Augen.
Diese Geschichte habe ich vor ein paar Jahren unzählige Male als Gutenachtgeschichte unseren kleinen Töchtern Cécile und Olivia erzählt.
Heute – 2017 – haben wir sie fast real erlebt, zumindest grössere Teile davon.
Wal: Whale Watching, Hauganes, Iceland, 7.10.2017.
Nordlicht:
1. Bild Akureyri, Iceland, 5.10.2017; restliche Bilder Stokkseyri, Iceland, 13.10.2017
Nachthimmel: Akureyri, Iceland, 7.10.2017
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Die Gschicht känn ich no. Es isch e wunderschöni Gschicht und sogar mini Lieblings. 😀 🙂 Schöns Nordliecht, schöni Walbilder und schöne Himmel!!!!
Es sind mega schöni Ferie gsi und vor allem au unvergässlichi!
PS: de Almjúndir isch mega gschied und schlau und er isch en herzige Hund!❤❤❤❤❤❤
das schänk ich ihm als Belonig!!
vor “das schänk ich ihm als Belonig sötti no es Pouletbeindli si!;) 😉 🙂
So eine schöne Geschichte! Ein Traum! Und supertolle Bilder! Ich freue mich auf alle deine weiteren Artikel!
Danke!
Das sich so e SCHÖNI Gschicht, ich weiss no wo du sie eus verzellt hesch 🙂
So schön würklich und au mega schöni Bilder! Und so en herzige Almjundir!!:))
Danke Cécile. Vielen Dank. Es ist wichtig, Geschichten zu erzählen.